Form vs. Substanz
Form vs. Substanz
Heute wurde ich daran erinnert, dass ich doch ein höflicher Mensch sei. Man forderte mich (wie schon früher mehrfach) dazu auf, nicht länger mit Bildung, Unterstützung, Mitleid und Aufklärung um mich zu werfen - für derlei bestehe an dieser Stelle kein Bedarf. Stattdessen möge ich doch bitte Anstand und Respekt walten lassen, indem ich dort eben nichts mehr hinschicke.
Wisst Ihr, wann’s auf Tischmanieren ankommt?
Dann, wenn Ihr einen guten Eindruck zu machen versucht.
Wisst Ihr, wann ein guter Eindruck Euch nichts hilft?
Dann, wenn Ihr selber auf der Speisekarte steht.
Es gibt einige unter uns, die finden es überflüssig, immer neue Blickwinkel einzunehmen, um die Dinge von möglichst vielen Seiten zu betrachten. Sie fürchten, dadurch vielleicht nicht den Eindruck zu erwecken, den zu machen sie sich schon ihr ganzes Leben lang anstrengen, und der davon abhängt, dass sie schnell und geschickt auf ausgetretenen Pfaden wandeln.
Auf ihrem Grabstein wird dereinst stehen: Er hat jederzeit perfekt die Form gewahrt.
Anderen ist der äussere Eindruck egal. Sie hören nie auf zu lernen, und unter Bildung verstehen sie weniger ein abgeschlossenes Pflichtprogramm als vielmehr einen unaufhörlichen Prozess. Weil sie, wie alle Menschen, immer wieder auf dem Holzweg sind, geben sie sich nicht mit einem einzigen Weg zufrieden - sie suchen, betrachten und beschreiten so viele sie können. Was immer ihnen an Neuem begegnet nehmen sie mit Interesse zur Kenntnis, ohne sich im Geringsten dadurch belästigt zu fühlen - manches verwerfen sie, anderes wird zum Teil ihrer Weltanschauung „befördert“. Sie bleiben nicht stehen, weil sie innerlich weiterkommen wollen.
Auf ihrem Grabstein wird man lesen: Er wollte verstehen.
Den Formwahrern sind Unterstützung, Mitleid und Aufklärung vermutlich lästig.
Formwahren frisst viel Energie und gibt einem nichts zurück.
Unter Anstand und Respekt versteht ein Formwahrer alles, was ihm das Formwahren erleichtert - aber nichts, was es relativieren oder gar erschweren könnte. (Höflichkeit, als reines Formkriterium, ist selbstverständlicher Teil des Programms.)
Den Sinnsuchern hingegen sind Unterstützung, Mitleid und Aufklärung
nur eine weitere Schattierung in dem reichen Spektrum, in dem sie sich bewegen.
Sie, denen ständig neue Lichter aufgehen, nutzen absolut alles als Zündfunken.
Anstand und Respekt sind für den Sinnsucher dort zu finden, wo seinem hungrigen Geist Nahrung geboten wird - und zwar möglichst gehaltvolle.
(Formkriterien wie Höflichkeit laufen da bestenfalls begleitend mit - als ein „nice to have“, aber gewiss nicht als strenges Diktat.)
Wir haben es demnach mit ganz unterschiedlichen inhaltlichen Auffassungen der beiden Begriffe Anstand und Respekt zu tun.
Bei den einen beziehen sie sich auf die Form, bei den anderen auf die Substanz.
Aber ich schreibe schon wieder wie für einen Sinnsucher.
Dem Formwahrer hätte es genügt, wenn ich einfach schweige.
Das Mam-Mut aus der Schweiz