Zeitzeugin
Meine Mutter (1923 bis 2017), die Zeitzeugin (Ein erinnertes Interview)
Wie war das eigentlich damals? Habt Ihr mitbekommen, dass Leute einfach verschwanden?
Also das war so - man merkte schon, dass viele aus der Nachbarschaft wohl weggezogen sind. Aber wohin, das ging einen ja eigentlich nichts an.
Und dann gab’s auch noch diese Arbeitseinsätze, zu denen jeder immer mal wieder herangezogen wurde. Da ging man in ein Lager und arbeitete dort, oder machte eben das, wozu man herbestellt worden war. Man konnte nie wissen, wann es wieder soweit war, und vielleicht waren diese Leute ja auch gerade in irgendeinem solchen Einsatz.
Aber sie kamen nicht wieder…
Ja eben, wir nahmen dann an, sie seien weggezogen. Gesprochen wurde darüber eigentlich nicht. Wir hatten unsere eigenen Sorgen…
Weisst du, man hat sich damals in allem bemüht, möglichst wenig aufzufallen. Man konnte sehr leicht in Misskredit geraten, wenn man sich auch nur ein bisschen extravaganter kleidete als andere Menschen. Es wurde einfach nicht gerne gesehen, wenn man aus der Reihe tanzte. Da hätten Fragen nach den ehemaligen Nachbarn gerade noch gefehlt…
Und dann war ja da auch noch der Krieg, da wusste man nicht mal von den Männern der eigenen Familie, wo sie gerade waren. Auch wenn sie mal Fronturlaub hatten, durften sie zu Hause nichts erzählen.
Du weisst ja, dass dein Opa beim Stahlhelm war. Er kriegte mal Besuch von einem Fronturlauber, der sass die ganze Zeit still am Tisch und sagte fast gar nichts. Gefragt, was denn mit ihm los sei, murmelte er nur, er habe Dinge gesehen, für die gäbe es keine Worte. Und er hätte schon zuviel gesagt. Wir sahen ihn nie wieder - er muss bald darauf gefallen sein.
Wie war das, als die Amerikaner kamen?
Alles war zerschossen und kaputt - Mainz lag zu 80% in Trümmern. Wir hatten die tiefen Keller der Brauerei für die Schutzsuchenden und Ausgebombten geöffnet, und wir hatten die gute Quelle im untersten Keller zum Alice-Krankenhaus umgeleitet, damit wenigstens die Verwundeten und Kranken sauberes Wasser hatten.
Und dann kamen sie und nannten sich „Befreier“. Alles, was uns so lange das Wichtigste gewesen war, sollte auf einen Schlag nicht mehr gelten. Ich hätte mich damals am liebsten erschiessen lassen - in einer Welt ohne die Werte, die ich kannte, wollte ich nicht mehr leben.
Es wurde dann doch weniger schlimm als wir dachten. Wir mussten eben wieder ganz bei Null anfangen. Zu allererst mussten wir uns etwas zu Essen organisieren - und dann ging’s ans Aufbauen.
Würdest du heute irgendwas anders machen?
Das ist eine seltsame Frage.
Wir passten uns den Umständen an, wie sie eben waren, und haben überlebt. Meine beiden Brüder kamen später aus der Gefangenschaft zurück, und auch die Grosseltern haben die schwierige Zeit zum Glück überstanden. Es nützt nichts, über Dinge nachzudenken, die nicht mehr zu ändern sind.
UND HEUTE?
DASSELBE MUSTER.
Text und Bild wurde vom Mam-Mut aus der Schweiz uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt.