Kinder in der DDR: Manchmal liegt die Zukunft doch in der Vergangenheit
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- Kategorie: MENSCHEN & GESELLSCHAFT
- Veröffentlicht: Donnerstag, 15. Dezember 2022 11:56
Es geht in diesem Artikel um die Kinderkrippen in der DDR. Der Text der zitiert wird, stammt aus dem Jahr 1976. Verglichen mit den heutigen Zuständen in Deutschland im Bereich der öffentlichen Kinderbetreuung wirkt er aber nicht, als beschreibe er eine ferne Vergangenheit, sondern eine Zukunft, die noch so weit entfernt liegt, dass sie als beinahe unerreichbar erscheint. So ist es ja auch. Wieder eine sozialistische Gesellschaftsordnung durchzusetzen, steht nicht gerade auf der Tagesordnung. Pech; z. B. für berufstätige Eltern und ihre Kinder.
Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewußtsein. Dieser berühmte Satz von Karl Marx gilt insbesondere natürlich auch für die Kindererziehung. Bekanntlich hat das soziale Umfeld einen großen Einfluß auf die Erziehung eines Kindes. So lernen die Kinder, in der Gemeinschaft anderer Kinder und unter dem Einfluß ausgebildeter Erzieherinnen, sich viel schneller und problemloser in der Gesellschaft zurechtzufinden, als das bei Einzelkindern der Fall ist. Und die Erziehung setzt schon im frühesten Kindesalter an. Natürlich spielen dabei die gesellschaftlichen Verhältnisse eine ganz entscheidende Rolle. Und die DDR war ein sehr kinderfreundliches Land. Hier hatte jedes Kind, unabhängig von seiner sozialen Herkunft und den finanziellen Voraussetzungen der Eltern die gleichen Entwicklungschancen. Die Kleine Enzyklopädie Das Kind (DDR, 1978) beschreibt die damalige Situation folgendermaßen:
Entwicklung der Krippen
Die Zahl der Krippen und Krippenplätze hat sich seit Bestehen der DDR außerordentlich schnell erhöht. 1972 waren es 4.854 Krippen mit 197.844 Plätzen, 518 Saisonkrippen mit 5722 Plätzen und 151 Dauerheime (für familiengelöste Säuglinge und Kleinkinder) mit über 7.184 Betten. Das bedeutet, daß von 1.000 Kindern im Alter von 0 bis 3 Jahren 304 in einer Kindereinrichtung betreut wurden. 1973 waren es bereits 367 von 1.000.
Internationaler Vergleich
In der Versorgung mit Krippenplätzen je Kopf der Kinderbevölkerung dieser Altersgruppe steht die DDR an der Spitze in der Welt. Von den kapitalistischen Ländern haben nur die skandinavischen Länder Krippen in größerer Anzahl geschaffen, aber sie haben höchstens für 1-5% der Säuglinge und Kleinkinder einen Krippenplatz zur Verfügung.
Bedarf an Kinderkrippen
Damit alle Mütter von Kindern dieser Altersgruppen, die einen Beruf ausüben wollen, ihr Kind auch unterbringen können, müßte für etwa 65-70% aller Kinder unter 3 Jahren ein Krippenplatz vorhanden sein; in manchen Orten der DDR ist es bereits gelungen, den Bedarf an Krippenplätzen zu decken. In den Großstädten und industriellen Ballungsgebieten wird dies wahrscheinlich in den nächsten zehn Jahren gelingen.
Harmonische und altersgemäße körperliche und psychische Entwicklung
Die Hauptaufgaben von Pflege und Erziehung in Krippen und Heimen sind: Schaffen von Bedingungen für die Festigung der Gesundheit, für die richtige Entwicklung des gesamten Organismus, vor allem für die normale und rechtzeitige Entwicklung der Hirntätigkeit der Kinder. Dazu gehören
1. richtige, dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes angepaßte Ernährung;
2. richtige Körperpflege;
3. frische Luft, viel Aufenthalt im Freien, Tagesschlaf im Freien;
4. Ausnutzung der Sonnenstrahlen;
5. guter Wärmeaustausch des Organismus, der einerseits durch zweckmäßige Bekleidung, andererseits durch entsprechende Abhärtungsmaßnahmen erzielt werden muß;
6. entwicklungsgerechte Organisation des Tagesablaufs (der Rhythmus von Schlaf und Wachsein, der Mahlzeiten, des Spiels, der Beschäftigungen usw.) ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Gesundheit und die normale Entwicklung der Kinder;
7. Förderung der psychischen Entwicklung durch entsprechende erzieherische Maßnahmen zur Sicherung des Lern- und Aneignungsprozesses des Kindes in vielseitiger angeleiteter wie selbständiger Tätigkeit;
8. individueller Umgang mit den Kindern. Voraussetzung dafür ist ein Arbeitsablauf, der jedem Kind möglichst viel Anregung und viel Freiheit für seinen Betätigungs- und Bewegungsdrang bietet, der ihm ständig Gelegenheit zum selbständigen Spiel gibt und beschäftigungslose Wartezeiten der Kinder vermeidet. Lebhaftigkeit und Freude beim Spiel sind für Gesundheit und Entwicklung der Kinder unentbehrlich; sie sind auch ein Gradmesser für die Qualität der erzieherischen Arbeit. Voraussetzung hierfür sind herzliche Beziehungen der Krippenerzieherinnen zu den ihnen anvertrauten Kindern.
9. Schaffen enger Beziehungen der Kinder zueinander, in der Familie gibt es gewöhnlich keine große Zahl von Kindern der gleichen Altersstufe. Das Kleinkind ist dauernd mit Erwachsenen oder älteren Kindern in Berührung. In der Krippe dagegen ist das gute Verhältnis der vielen gleichaltrigen Kinder untereinander für ihre Lebensfreude und Aktivität ausschlaggebend. Die Art der Beziehungen der Kinder zueinander hängt aber weitgehend von der gesamten Organisation ihres Lebens ab, von der geleisteten Erziehungsarbeit, vor allem vom unmittelbaren erzieherischen Einfluß der Erzieherinnen.
10. Berücksichtigung der individuellen Besonderheiten jedes Kindes
Beziehung Krippe-Familie
In der Familie findet das Kind die innige, gefühlsmäßige Beziehung, das individuelle Eingehen auf das Kind, die Stetigkeit der Beziehungen, die für die Entwicklung seiner Gefühle, seines Gemüts, seines Charakters die entscheidende Grundlage bilden. Die Krippe kann und muß die Aufgaben der Familie durch gezielte, planmäßige Pflege und Erziehung ergänzen. In der Tageskrippe ist die Bindung des Kindes an seine Familie durch die tägliche Rückkehr ins Elternhaus voll erhalten. Die Krippe kann sehr wirkungsvoll mit der Familie zusammenarbeiten. (...)
Gesundheitszustand und Entwicklung der Krippenkinder
Beim Aufbau der Krippen in der DDR standen Ärzte und Schwestern daher vor ganz neuen Aufgaben. Die Erkrankungshäufigkeit der Kinder in Kinderkrippen ist, vor allem im 1. Lebensjahr, im Durchschnitt noch deutlich höher als bei den zu Hause aufwachsenden Kindern. Die hauptsächliche Ursache für die Erkrankungen sind die Infekte der oberen Atemwege, darunter vor allem fieberhafte Infekte, Bronchitis, Erkrankungen des Ohres. Nur ein Teil der Kinder erkrankt sehr häufig (etwa 10-15% mehr als 5mal im Jahr); etwa ein Viertel bleibt gesund und fehlt das ganze Jahr nicht wegen Krankheit. Die anfälligen Kinder erkranken meist bereits in der Eingewöhnungszeit nach Aufnahme in die Krippe. Deshalb sollte der ärztlichen Untersuchung der Kinder vor der Aufnahme und ihrer allmählichen Anpassung an das Krippenleben große Aufmerksamkeit geschenkt werden. Besonders empfindlich gegen Umweltwechsel sind Kinder im Alter von etwa 9 bis 18 Lebensmonaten. Deshalb sollte die Aufnahme in eine Krippe am besten im 1. Lebenshalbjahr oder erst in der 2. Hälfte des 2. Lebensjahres erfolgen. Entwicklungsunterschiede in Abhängigkeit vom Typ der Einrichtung. Untersucht man heute die Entwicklung von Kindern in Krippen und Heimen, so zeigen sich Unterschiede in Abhängigkeit von dem Typ der Einrichtung. Am günstigsten entwickeln sich die Kinder, die in Tageskrippen betreut werden. Die hier betreuten Kinderzeigen in ihrem Wachstum im allgemeinen keinen Unterschied zu den in der Familie aufwachsenden. Lediglich bei Kindern in Wochenkrippen findet man einen geringfügigen Rückstand von Größe und Gewicht; dabei spielt eine Vielzahl von Faktoren aus dem Familienmilieu offenbar mit eine Rolle.
Die pädagogische Arbeit der Kinderkrippen
Seit einigen Jahren haben die Kinderkrippen der DDR ihre Arbeit qualifiziert und die pflegerische Arbeit planmäßig mit der pädagogischen Arbeit verbunden. Die Erzieherinnen stützen sich dabei auf die Prinzipien und Materialien, die im Buch „Die pädagogischen Aufgaben und die Arbeitsweise der Krippen“ (Herausgeber E.Schmidt-Kolmer) niedergelegt sind. Als erste Stufe des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems haben die Krippen die Aufgabe, die Selbständigkeit der Kinder unter 3 Jahren zu entwickeln und sie zum Leben in der Kindergemeinschaft zu befähigen. Dabei gilt es vor allem, das Spiel des Kindes zu entwickeln, weil es sich im Spiel die menschlichen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Verfahrensweisen im Umgang mit den Gebrauchsgegenständen aneignet und im Spiel nachgestaltet, was es in der sozialen Kommunikation mit den Erwachsenen erlebt.
Die pädagogische Arbeit in den Krippen wird während des ganzen Tagesablaufs der Kinder mit pflegerischen Aufgaben der Krippenerzieherinnen verbunden. In systematisch aufgebauten und vorgeplanten Beschäftigungen werden die Kinder in neuen Aufgaben unterwiesen. Die pädagogische Arbeit ist untergliedert nach Sachgebieten - Erziehung zur Selbstbedienung (selbständiges Essen, Trinken, Körperpflege, An- und Ausziehen usw.), Körpererziehung, Bekanntmachen mit der Umwelt, Spracherziehung, Befähigung zum Spiel, musische Erziehung (Musikerziehung und bildnerische Tätigkeit}. Für jedes Sachgebiet wurden Aufgabenfolgen ausgearbeitet, die es der Krippenerzieherin ermöglichen, die zu erreichenden Teilziele und Teilschritte in entsprechender Aufeinanderfolge aufzubauen und zu lösen.
Die Einführung der systematischen ganztägigen pflege-erzieherischen Arbeit hat sehr günstige Auswirkungen auf die durchschnittliche Entwicklung der Krippenkinder gehabt. Untersuchungen von Zwiener und Mitarbeitern seit 1971 haben gezeigt, daß die zehn oder fünfzehn Jahre früher festgestellten mittleren Rückstände der Kinder aus Krippen im Vergleich zu den zu Hause aufwachsenden heute fast gar verschwunden sind. Es gibt im Gegenteil eine Reihe von Entwicklungsmerkmaien, in denen die Kinder aus Krippen beim Übergang in den Kindergarten den aus dem Elternhaus kommenden voraus sind.
Nur bei den Kindern, die in Wochenkrippen betreut werden, gibt es noch Entwicklungsrückstände. Hier muß man aber berücksichtigen, daß gerade in die Wochenkrippen bevorzugt Kinder alleinstehender oder kinderreicher Mütter aufgenommen werden. In diesen Familien kann das Kind oft nicht so gefördert werden, wie das Kind in der vollständigen Familie, das mit 1-2 Geschwistern oder als Einzelkind aufwachsen. Deshalb müssen noch Mittel und Wege gefunden werden, um die Förderung der Kinder in den Wochenkrippen und in ihren Familien wirkungsvoller zu gestalten.
Der Arzt in der Kindereinrichtung muß dafür sorgen, daß der pflegerisch-erzieherische Prozeß den entwicklungsspezifischen Bedürfnissen der Kinder entspricht. Er muß die Wirksamkeit der pädagogischen Maßnahmen an ihrem Ergebnis anhand der durchschnittlichen körperlichen und psychischen Entwicklung, kontrollieren.
Quelle:
Kleine Enzyklopädie Das Kind, VEB Bibliographisches Institut, Leipzig, 1978, S.103-106.
Nachtrag:
Die Bereitstellung eines Kindergarten- bzw. Kinderkrippenplatzes war in der DDR generell kostenfrei. Alleinstehende werktätige Mütter, die nach dem Wochenurlaub von der Arbeit freigestellt wurden, weil für ihrem Kind kein Krippenplatz zur Verfügung gestellt werden konnte, erhielten für die Dauer dieser Freistellung von der Sozialversicherung eine monatliche Unterstützung in Höhe des Krankengeldes, auf das sie bei eigener Arbeitsunfähigkeit ab 7.Woche der Arbeitsunfähigkeit im Kalenderjahr Anspruch hatten. Sie betrug bei bisheriger Vollbeschäftigung für Mütter mit 1 Kind mindestens 250 Mark, mit 2 Kindern mindestens 300 Mark, mit 3 und mehr Kindern mindestens 350 Mark. Bei Teilbeschäftigung galten die Mindestbeträge anteilig. Dazu muß man sagen, daß das durchschnittliche Einkommen eines Arbeiters bzw. einer Arbeiterin in der DDR etwa zwischen 450 und 1300 M im Monat betrug. (Das ist natürlich nicht mit heutigen Zahlen vergleichbar, da die Lebenshaltungskosten wesentlich niedriger lagen als heute.) Es gab gleichen Lohn für gleiche Arbeit – für Mann und Frau. Und es herrschte Vollbeschäftigung, d.h. in der DDR hatte jeder eine Arbeit. Arbeitslosigkeit gab es nicht. So waren Kinder niemals ein soziales Risiko für die Familie. Im Jahre 1989 gab es allein in der Hauptstadt der DDR, Berlin, 697 Kindergärten (davon 119 betriebliche), und über 95% aller Kinder besuchten damals einen Kindergarten bzw. eine Kinderkrippe.