Die Schetinin-Schule - Kindererziehung außerhalb des Systems

Kategorie: BILDUNG & PÄDAGOGIK
Veröffentlicht: Mittwoch, 14. Dezember 2022 15:40

Vor etwas mehr als drei Jahren starb Michail Petrowitsch Schetinin, der Gründer und Leiter der Schetinin-Schule im Dorf Tekos in Krasnodar, Russland. Die Schetinin-Schule gibt es bereits seit dreißig Jahren. In dieser Zeit haben Tausende von Kindern diese Erfahrung gemacht. Wer war dieser Lehrer und was war die Besonderheit seiner ungewöhnlichen Schule?

Stellen Sie sich vor eine Schule ohne Unterricht, ohne Klassenzimmer, ohne Schreibtische in geraden Reihen, ohne Noten, ohne Schuluniform und ohne Klassenteilung.Die Kinder unterrichten sich gegenseitig und lernen von einander. Wie finden Sie das? Denken Sie, sowas gibt es nicht? Falsch. Eine solche Schule gibt es - sie befindet sich in der Nähe der Stadt Gelendzhik in der Siedlung Tekos. Und das ist die Schetinin-Schule. Beginnen wir damit, wer Schetinin war.

 

Wer war Mikhail Schetinin?

Mikhail Petrovich Schetinin war ein sowjetischer und russischer Pädagoge. Seit 1991 ist er Mitglied der Russischen Akademie für Bildung. Er ist auch der Gründer der Schule, über die wir heute sprechen, sowie derer Direktor. Es ist aber nicht wirklich eine Schule. In den Dokumenten heißt es "Lyzeum und Internat für die komplexe Ausbildung der Persönlichkeit von Kindern und Jugendlichen". Und es ist eine staatlich finanzierte allgemeine Bildungseinrichtung.

Michail Petrowitsch schloss 1973 sein Studium am pädagogischen Institut in Saratow ab. Sein Fach - Musik und Gesang. Er arbeitete als Direktor in Musikschule in der Stadt Kizlyar. Und parallel war er ein Akkordeon Lehrer. Schon damals begann er sich zu fragen, warum einige Schüler leicht und mühelos Fortschritte machten, während andere trotz des absolut gleichen Umgangs der Lehrer mit ihren Schülern überhaupt keine Erfolge zeigten.

Er konnte beweisen, dass es unmöglich ist, die Entwicklung eines Kindes nur in eine Richtung zu lenken. Die Entwicklung muss ganzheitlich sein. Mit seinen Schülern übte er nicht nur Musik, sondern ging auch wandern, las, sang und zeichnete. Und es hat geklappt. Diejenigen, die bisher zu den Letzten gehörten, begannen in Prüfungen und bei verschiedenen Musikwettbewerben überraschend gute Leistungen zu erbringen.

Eine interessante Seite in seiner Biografie ist die Schule im Dorf Yasnie Zori, wo er auch Schulleiter war. Und entwickelte die damals beliebte Idee, einen Schulkomplex zu schaffen, in dem nicht nur den als grundlegend geltenden Schulfächern wie Mathematik, Lesen, Russisch und Geschichte Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet wird, sondern auch dem Gesang, der Choreographie und dem Sport.

Nach Yasnye Zorie arbeitete er in dem Dorf Zybkovo in Kirowograd und leitete ein Experiment zur Schaffung von einem agro-industriellen Schulkomplex, wo Schulprozess am Morgen mit der Arbeit in der zweiten Hälfte des Tages kombiniert wurde. Das Experiment wurde 1986 als Misserfolg gewertet und eingestellt.

Alle Experimente von Schetinin bildeten die Grundlage für das letzte Werk seines Lebens - die Schaffung einer neuen Art von Schule. Dazu musste die Frage beantwortet werden: "Soll die Schule nur Wissen vermitteln oder eine Persönlichkeit bilden? In seinem System legte Schetinin großen Wert auf die geistige und moralische Entwicklung, d. h. auf die Erziehung eines harmonischen, selbständigen und sozial aktiven Individuums, das über die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt.

 

Das Konzept der Schetinin-Schule

Die Schule ist im Wesentlichen ein Internat und besteht aus einem in sich abgeschlossenen Komplex von Wohn- und Schulgebäuden. Die Schüler wohnen ständig auf dem Schulgelände und fahren gelegentlich nach Hause. Die Schüler selbst kümmern sich um den Bau und Reparaturen und die Pflege der Einrichtungen und des gesamten Geländes - eine großartige Möglichkeit, all die Fähigkeiten zu erlernen, die man für das Leben braucht (und die in den normalen Schulen nicht gelehrt werden).

Der Unterricht an der Schule findet das ganze Jahr über statt. Einige Schüler wohnen dauerhaft in der Schule, in eigens dafür gebauten Unterkünften.

Der Unterricht basiert auf dem Prinzip des Verzichts auf herkömmliche Bildungssysteme. Es wird die Vertiefungsmethode praktiziert, bei der die verschiedenen Fächer auf mehrere Tage aufgeteilt werden. Dies ist eine sehr gute Technik - angesichts der ständigen Klagen von Schülern in normalen Schulen, dass das "Springen" von einem Fach zum anderen einfach völlig überflüssig ist!

Die Vertiefungen finden in regelmäßigen Zeiträumen statt, etwa einmal alle paar Monate. Der Zeitraum variiert zwischen einigen Tagen und einigen Wochen. Der Stundenplan kann sich ebenso wie der Tagesablauf täglich ändern, da ein großer Teil des Lebens der Schüler mit körperlicher Arbeit ausgefüllt ist.

Neben den klassischen Wissenschaften umfasst der Lehrplan auch ethnische Tänze, verschiedene Systeme des Nahkampfes und verschiedene esoterische Lehren.

Das System der internen Gruppenerziehung und der disziplinarischen Kontrolle ist dem der Armee ähnlich. Es herrscht eine strenge Zensur aller Informationsquellen. Das macht für mich sehr viel Sinn: Sie müssen auswählen, was Ihre Kinder lesen und sehen.

Die Vertiefungen dauern nicht länger als eine Woche. Dann gibt es eine Prüfung.

 

Besonderheiten der Lehrmethodik an der Schetinin-Schule:

Einer der wichtigsten Unterschiede zu herkömmlichen Sekundarschulen war, dass ein Kind dort kein Alter hatte. Auf die Frage "Wie alt bist du?" war die Antwort "Ewig" üblich. Es ist besonders amüsant, das von einem Kleinkind zu hören. Es gibt kein Klassensystem, kein klar definierten Unterrichtssystems, keine separaten Klassenräumen. Der Unterricht findet in einem beliebigen Raum innerhalb oder außerhalb des Schulgeländes statt.

Es gibt natürlich Lehrer. Aber sie kontrollieren lediglich den Prozess, ohne sich zu sehr einzumischen.

Die Kinder unterrichten hier gegenseitig. Unter der Aufsicht erfahrener Lehrkräfte entwickeln Kinder, die sich mehr für bestimmte Wissenschaften interessieren, Techniken und Methoden, um diese Fächer in wissenschaftlichen Labors selbst zu unterrichten und sie dann anderen beizubringen. Jedes Kind wird hier wie ein Universallehrer unterrichtet, zumindest in den Naturwissenschaften: Physik, Chemie, Biologie und Geografie. Kinder können das, was sie lernen, auf unterschiedliche Weise wahrnehmen und weitergeben. In diesem Zusammenhang ist jeder Lernende an der Entwicklung von "Konzepten" beteiligt.

Ein Konzept ist ein Paradigma, ein System von Ansichten über einen bestimmten Gegenstand und ein Lernsystem. Es handelt sich um eine Art Mini-Lehrbuch, das die Kinder selbst erstellt haben, damit sie die Themen besser verstehen oder sie anderen beibringen können.

Die Kinder entwerfen und drucken diese Handbücher selbst, oft sogar in Form von Zeichnungen und Diagrammen (die alle einer strengen fachlichen Kontrolle unterzogen werden). Es wird dazu ermutigt, so viele Konzepte zu einem bestimmten Material und Thema wie möglich zu erstellen. Manche Kinder haben sogar 10 bis 14 Erklärungen für die von ihnen vorgetragenen Inhalte parat. Die Entwicklung von Konzepten ist sehr enthusiastisch und begeisternd: Es ist die persönliche Vision des Schülers, seine Sicht der Wissenschaft und die Synthese aller ihrer Komponenten. Wer den Kurs schneller und besser beherrscht, beginnt, dieses Wissen an alle anderen zu "verschenken", unabhängig von ihrem Alter.

In einer gewöhnlichen Schule hören die Schüler den Lehrern oft unaufmerksam zu, weil die Wahrscheinlichkeit, beim nächsten Mal an die Tafel gerufen zu werden, gering ist. Hier jedoch saugt jeder Schüler gierig alles auf, was er hört, denn er wird den Stoff sofort einem anderen erklären und vielleicht einen eigenen, neuen Erklärungsansatz finden. Alle Wissenschaftler kennen die Wirksamkeit dieser Vorgehensweise: Wenn ein Mensch das, was er verstanden hat, einem anderen erklärt, bleibt dieses Wissen sein ganzes Leben lang erhalten - im Durchschnitt 90 %. Allein durch Zuhören behalten wir oft nur 10 % (oder noch weniger) der Informationen in unserem Gedächtnis.

Gleichzeitig finden Lehrer und Kinder neue Wege der Wissenvermittlung, so dass der Lernprozess auf spielerische Art und Weise abläuft. Zum Beispiel könnte sich Michail Petrowitsch für die Zeit des Vertiefens der gesamten Schule in die englische Sprache eine Aufgabe ausdenken - eine Geschichte über einen Spion, der in einer Woche in ihre Schule geschickt wird, und um seine Pläne zu vereiteln, darf der Spion nicht erraten, dass er in einer russische Schule gekommen ist. Alle sind an dem Spiel beteiligt: Lehrer und Kinder gleichermaßen, und während der Woche werden sogar alle Gespräche zwischen den Kindern auf Englisch geführt - so gut es eben geht ("aus Gründen der Geheimhaltung"). Und glauben Sie mir: In einer solchen Atmosphäre werden sogar Ihre Gedanken in ein paar Tagen auf Englisch umgestellt!

Es gibt auch kein Benotungssystem.

Alle Fächer sind miteinander verbunden, d. h. die Kinder lernen die Naturwissenschaften nicht stückweise (hier Chemie, dort Mathematik, woanders Geschichte), sondern als zusammenhängendes Ganzes. Die Schülerinnen und Schüler können Experimente durchführen, zum Beispiel etwas anbauen. Und ihre Projekte zum Leben zu erwecken. Zum Beispiel im Bereich der Ökologie. Niemand hindert sie daran, das zu tun. Interessanterweise werden sie aber von niemandem unter Druck gesetzt oder gezwungen. Deshalb sind der Bewusstseinsstand eines Kindes und seine Unabhängigkeit sehr hoch. Das Kind muss verstehen, dass alles, was er tut, für ihn selber wichtig ist.

Der spirituellen Erziehung wird große Aufmerksamkeit geschenkt. Den Kindern wird geholfen, sich selbst zu erkennen, ihr Wesen zu entdecken. Sie werden von Zwängen, Ängsten und Unsicherheiten befreit, und ihr Genie wird freigesetzt. Schetinin sagte, dass jedes Kind ein Genie ist, man muss ihm nur helfen, dieses Genie zu entfalten.

Jungen und Mädchen leben in getrennten Gebäuden. Und sie lernen getrennt voneinander. Dies ist aus mehreren Gründen wichtig: Mädchen entwickeln sich in der Regel schneller als Jungen und nehmen Informationen schneller auf, was der Würde der Jungen schadet, die von Natur aus dazu neigen, zu führen. Und Jungen in dieser Situation versuchen, sich mit Aggression, mit Gewalt von ihnen abzuheben. Ein weiterer wichtiger oder besser gesagt entscheidender Punkt ist die Fähigkeit, die gesamte Aufmerksamkeit auf das Thema zu richten. Gemeinsamer Unterricht ist z. B. bei Choreographie möglich, oder wenn ein Mädchen als "Mathematikerin" kommt, um die "Physiker"- Jungen zu unterrichten.

Auf dem Speiseplan der Schüler steht kein Fleisch. Aber es gibt Fisch und Milchprodukte.

Die Schule ist kostenlos. Genau wie in einer normalen Gesamtschule.

Die Schule hat zu jeder Zeit etwa 350 Schüler beiderlei Geschlechts. Aufgrund der großen Anzahl von Schüler, die hier lernen wollen, wird nicht jeder angenommen. Es gibt ein Wettbewerb. Die wichtigsten Auswahlkriterien sind die persönlichen Eigenschaften des Bewerbers, Teamfähigkeit und der Grad der Selbständigkeit. Es gibt keine religiösen oder ethnischen Kriterien. Übrigens können sich nicht nur Hochbegabte bewerben, sondern auch solche, die in der Schule nicht besonders gut waren: Entscheidend ist die Fähigkeit, sich an die Gegebenheiten anzupassen, und der Wunsch, zu lernen und Neues zu erfahren, sowie die Fähigkeit, mit einem äußerst strengen Regime mit wenig Freizeit zurechtzukommen.

Es gibt nicht viel Freizeit, aber manchmal gibt es Campingausflüge, bei denen man grillt. Die Campingausflüge werden von den Schülern in Absprache mit den Lehrkräften initiiert. Die Kinder gehen auch im Sommer zur Schule (in anderen russischen Schulen sind die drei Sommermonate – Ferienzeit).

Die Qualität der Ausbildung ist hoch, die Absolventen bekommen leicht einen Studienplatz, usw. Nachdem sie dort gelernt haben, fangen die Kinder an, alle möglichen Themen zu mögen und sich darüber zu interessieren. Viele Schülerinnen und Schüler studieren gleichzeitig in zwei verschiedenen Fakultäten an zwei verschiedenen Universitäten. So kann jemand beispielsweise Landwirtschaft und gleichzeitig Jura studieren, während er oder sie zuvor bereits einen Abschluss als Koch und einen Master in Innenarchitektur erworben hat. Das ist hier normal.

 

Kritik

Schetinins bahnbrechende Ideen und Aktivitäten in der Pädagogik wurden seit der Sowjetzeit von Kollegen und der Presse kontrovers beurteilt. Wegen seiner Neigung zu den Ideen der Roerichs und des Agni Yoga wurde die Schule sogar als totalitäre Sekte bezeichnet, Schetinin selbst als Guru, der "kosmische Informationen" verbreitete, und seine Schüler als Adepten.

Für Beamte und Bürokraten ist die Schetinin-Schule Unsinn und bereitet ihnen Kopfzerbrechen, denn sie beweist eindeutig, dass der formalistische Zugang die Entwicklung der Kinder erheblich behindert und den Lehrern die Freiheit der Kreativität nimmt, indem er ihnen "die Flügel abschneidet".

Die Aggression gegen Schetinin war so groß, dass mehrere Anschläge auf seine Familie verübt wurden und der Sohn seines Bruders getötet wurde. Michail Petrowitsch selbst sagt über die Schule: "Wir sind immer ein Kriegsschiff, das beschossen wird. Du willst sein Passagier werden, aber hier gibt es nur Matrosen. Bist du bereit, ein Matrose in dieser Mannschaft zu werden?"

 

Nachteile der Schetinin-Schule

Eine der Gefahren: Die meisten Kinder, die diese Schule absolvieren, werden Lehrer an dieser Schule, weil sie es in der regulären Gesellschaft schwer haben - sie sind weit vom allgemeinen Niveau entfernt und unterscheiden sich stark von normalen Kindern. Ob dies ein Vor- oder ein Nachteil ist, müssen Sie selbst entscheiden. Man muss aber auch sagen, dass Schetinin-Schule der Ort ist, wo viele besondere Kinder kommen - begabt und einzigartig, wahrscheinlich wäre es für sie in der normalen Gesellschaft sowieso sehr schwierig, aber hier - haben sie ein großes Team, Freunde. Es ist eine besondere Gemeinschaft, die man nur schwer verlassen kann. Deshalb wollen viele Kinder nicht weggehen, auch nicht in den Ferien.

In der Schule stehen die Kinder früh auf, in der Morgendämmerung, dann joggen sie und gehen im Fluss baden - zu jeder Jahreszeit. Die 10-Jährige haben nur 30 Minuten Freizeit pro Tag. Das Regime ist sehr anspruchsvoll, nicht jeder kann damit umgehen. Die Mädchen müssen übrigens lange Röcke tragen. Die Jungen in der Schule haben ein ähnliches Regime wie die Soldaten, nicht weicher, wenn nicht sogar härter - körperlich müssen die Jungen sehr stark sein, um durchzuhalten, um sich nicht zu erkälten und um psychisch durchzuhalten. Die Mädchen werden nicht um 5 Uhr, sondern um 5.30 Uhr geweckt, und sie gehen nicht joggen. Die persönliche Zeit beträgt 1,5 bis 2 Stunden. Plus - Zeit nach dem Abendunterricht und Zeit nach dem Unterricht nach dem Frühstück.

Schetinin schuf die Schule der Zukunft, nicht aus Bronze, sondern aus Kinderknete. Keine seiner Schulen, und davon gab es eine ganze Reihe, war eine Kopie von anderen. Er veränderte ständig ihre Form, warf alles weg, was ihm im Weg zu stehen schien, und schuf Neues. Es war eine gewagte experimentelle Pädagogik. Seine pädagogische Methode wird von der UNESCO als die effektivste in der Welt anerkannt.

 

Bibliographie

M.P. Schetinin ist eher ein Mann der Tat. Er schrieb nur ein einziges Buch über Pädagogik, das seine pädagogischen Ideen widerspiegelt:

 

Unfassbares umfassen: Notizen eines Erziehers. - Moskau: Pedagogica, 1986.

 

Darin schreibt er:

 

Mikhail Schetinin hat bewiesen, dass es eine andere Schule und eine andere Pädagogik möglich ist